Die Angst, vom Glauben abzufallen oder nicht mehr glauben zu können
- Julia Neuenhagen
- 26. Juni 2024
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Juli 2024

1. Wenn du nicht mehr glauben kannst oder willst
In meiner Begleitung von Menschen mit religiösem Trauma kommen die meisten Betroffenen während des Prozesses irgendwann an einen Punkt, an dem sie merken, dass sie an bestimmte religiöse Überzeugungen nicht mehr glauben können oder wollen oder sie spüren, dass sie momentan überhaupt nicht mehr glauben können.
Auf der einen Seite ist das ein ungeheurer wichtiger Reifungsschritt hin zu sich selbst, den eigenen Bedürfnissen und einem mündigen Glauben und gleichzeitig macht er vielen Betroffenen unheimliche Angst, weil sie spüren, etwas ändert sich mit meinem Glauben, ich kann das alles, was mir von Kindheit an gepredigt wurde und woran ich mein Leben ausgerichtet habe nicht mehr glauben.
Die Betroffenen berichten dann oft, dass sie das Gefühl haben, keinen Halt mehr im Leben zu spüren, fühlen eine große Unsicherheit in sich selbst und sehnen sich nach der früheren Glaubensgewissheit zurück.
Das ist normal und Teil des Heilungsprozesses.
2. Die Folgen nicht verarbeiteter und integrierter religiösen Verletzungen
Für einige ist diese innere Spannung, die durch diese Glaubenslücke entsteht, kaum auszuhalten.
Sie suchen sich so schnell wie möglich einen neuen Glauben, eine neue Form der Spiritualität oder wenden sich - einer zum Teil sehr gefährlichen - psychospirituellen Szene zu.
Das ist nur allzu verständlich!
Wenn jemand die Erfahrung gemacht hat, dass der Glaube Sicherheit und Gewissheit bietet, dann möchte man diesen Zustand schnell wieder zurück haben.
Denn Sicherheit ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen.
Sich jedoch einem Glauben oder einer Spiritualität zuzuwenden ohne sich die dahinterliegenden Gründe bewusst zu machen, warum der Glaube einen so hohen Stellenwert im Leben einnimmt und die zugrunde liegenden religiösen Verletzungen nicht verarbeitet und integriert, kreiert erneut eine Art Scheinsicherheit durch den neuen Glauben oder anders ausgedrückt, alter Wein wird in neue Schläuche gegossen.
3. Was ist spiritual bypassing?
Fachsprachlich spricht man dann von spiritual bypassing.
Beim spiritual bypassing werden religiöse Aussagen, Floskeln, Vorstellungen oder religiöse Praktiken missbraucht oder zweckentfremdet, um unangenehme und schmerzhafte Gefühle zu vermeiden und ungelöste psychische Konflikte oder (religiösen) Traumata aus dem Weg zu gehen.
Wie bei einer Bypass-OP am Herzen, wird mit Hilfe von Religion oder Spiritualität um die verletzten inneren Anteile eine Art Umleitung gelegt, damit man diese nicht mehr fühlen und sich damit auseinandersetzen muss.
4. Woher kommt die Angst, vom Glauben abzufallen oder nicht mehr glauben zu können?
Hinter der Angst, vom Glauben abzufallen oder nicht mehr glauben zu können, steckt die Angst vor Bindungsverlust aus der Kindheit.
Jeder kleine Mensch, der auf die Welt kommt, ist zu 100% auf seine Eltern angewiesen. Ohne die Zuwendung der Eltern würde das Kind sterben.
Ein Kind ist abhängig von den Eltern und glaubt alles, was die Eltern ihm erzählen.
Das ist evolutionsbiologisch absolut überlebenswichtig.
Denn wenn eine Urzeit-Mama dem Kind gesagt hätte, geh nicht aus der Höhle, draußen lauert ein Säbelzahntiger und das Kind hätte nicht auf die Mama gehört und wäre trotz Warnung nach draußen gegangen, dann hätte das Kind wahrscheinlich nicht überlebt. Deswegen glauben Kinder alles, was ihnen Erwachsene erzählen.
Wächst ein Kind in einer streng religiös geprägten Familie auf und hat Eltern, die ihr Leben ganz nach ihrem Glauben ausrichten, den eigenen Glauben nie reflektiert haben und vielleicht selbst von religiösen Trauma betroffen sind, dann wird es unhinterfragt alle religiösen Glaubensüberzeugungen der Eltern übernehmen und alles glauben, was ihm über Gott, Himmel und Hölle und die Liebe erzählt wird.
Denn genauso wie man die Muttersprache der Eltern übernimmt, übernimmt man auch deren Glauben.
Ein Kind kann nicht einfach sagen, eigentlich wäre ich lieber Atheist oder Buddhist. Würde es das tun, würde es höchstwahrscheinlich große Probleme bekommen und sich nicht mehrder Familie zugehörig und ausgestoßen fühlen.
Und das hält kein Kind aus, denn es braucht die Familie um zu überleben.
Die Glaubensüberzeugungen der Eltern zu übernehmen und sich bestimmten religiösen ethisch-moralischen Ansichten gegenüber anzupassen, erzeugt bei dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und zwar auch dann, wenn die jeweiligen Glaubensüberzeugungen völlig abwegig oder sogar toxisch sind.
Die Übernahme der elterlichen Glaubensüberzeugungen signalisiert dem Kind folglich die Abwesenheit von Gefahr und das beruhigt das Nervensystem.
Nicht zu glauben bedeutet als Kind, auf Ebene des Nervensystems zu sterben, weil es damit aus der Verbindung zu seinen Eltern und damit auch aus der Beziehung zu Gott herausfallen könnte.
5. Warum hilft eine rein kognitive Herangehensweise bei religiösem Trauma nicht?
Sobald das Kind älter wird und beginnt, den Glauben zu hinterfragen und sich eigene Gedanken über das Leben und Liebe zu machen, gerät das Nervensystem unter Stress, weil es sich beispielsweise verbotenen Themen zu wendet, sich anders verhält als der Glaube es vorschreibt oder Gedanken hat, die so gar nicht christlich sind.
Dann beginnt das Nervensystem, Alarm zu schlagen und signalisiert dem Körper Gefahr, auch wenn kognitiv betrachtet, keine reale Gefahr im Außen vorliegt.
Das ist der Grund dafür, warum es nicht möglich ist, allein durch kognitive Überzeugungen ein Gefühl von Sicherheit zu generieren.
Der Kopf sagt vielleicht: Ja, es ist okay, wenn ich anders glaube, nicht mehr glaube oder mit meiner Partner*in einvernehmlich vorehelichen Geschlechtsverkehr habe, aber der Körper sagt: nein, das stimmt nicht, das ist nicht okay. Es ist möglich, dass ich dafür nicht in den Himmel komme oder mich meine Eltern verlassen, wenn sie nur wüssten, was ich wirklich glaube oder wie ich mich verhalte und was ist, wenn die Evangelikalen doch recht haben?
6. Welche religiösen Glaubenssätze können daraus entstehen?
Und wenn Betroffene sich in diesem Zustand befinden, dann können sich daraus ziemlich hartnäckige Glaubenssätze entwickeln, die das ganze Leben prägen, wenn sie nicht aufgelöst werden:
Wenn ich nicht mehr glaube, werde ich ganz allein sein.
Die Welt ist ein gefährlicher Ort.
Nur in einer Gemeinde bin ich sicher.
Für mich kommt nur eine Partner*in in Frage, die einen ähnlichen christlich-religiösen Hintergrund hat wie ich.
Ich bin für das Seelenheil anderer Menschen verantwortlich und muss sie missionieren.
Ungläubige Menschen sind gefährlich. usw.
Sobald Betroffene versuchen, sich anders zu verhalten als früher, gewisse christlich-religiöse Regeln und Grenzen überschreiten, schlägt das Nervensystem und damit der Körper Alarm und das macht es so unheimlich schwierig, sich von einem toxischen Glauben, einer Gemeinde oder dem streng gläubigen Elternhaus zu lösen.
Dadurch befindet sich der Körper in einem fortwährenden Anspannungszustand.
Findet der Körper keine Lösung für diesen Anspannungszustand, ist das der Zeitpunkt, an dem Symptome entstehen.
Dabei kann es sich um Ängste bis hin zur Panik handeln, Depressionen, Zwangsstörungen, Schwierigkeiten bei der Regulation von Gefühlen, somatische Symptome, körperliche Erkrankungen wie beispielsweise Autoimmunerkrankungen, körperliche Schmerzen, CFS, Burnout und viele andere körperliche Leiden.
7. Was ist mit Menschen, die nicht in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen sind und sich später einer fundamentalistisch-evangelikalen Gemeinde angeschlossen haben?
Bevor ich dazu komme, was man machen kann, wenn man von der Angst, vom Glauben abzufallen betroffen ist, möchte ich kurz einen Blick auf die Menschen werfen, die nicht in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen sind und sich später einer fundamentalistisch-evangelikalen Gemeinde angeschlossen haben. Denn auch diese Menschen kennen die Angst, vom Glauben abzufallen oder nicht mehr glauben zu können.
Ich möchte nicht alle über einen Kamm scheren, aber meiner Erfahrung nach sind diese Menschen überdurchschnittlich oft von Entwicklungstrauma betroffen.
Dabei handelt es sich um sehr frühe Verletzungen in der Kindheit.
Beispielsweise eine schwierige Geburt, Frühgeburt, Eltern, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht liebevoll dem Kind zuwenden können, Abwesenheit eines Elternteils, Scheidung, Mangel an emotionaler Bindung oder die Unfähigkeite auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, Erkrankung eines Elternteils…
Diese Menschen wachsen häufig mit dem Gefühl auf, auf dieser Welt nicht willkommen zu sein, nie richtig im Leben angekommen zu sein und hier keine Heimat zu finden. Um diesem starken Schmerz aus dem Weg zu gehen, wird Halt, Geborgenheit, Sicherheit und Liebe bei Gott und im Jenseits gesucht und sich dort mehr beheimatet als hier auf dieser Erde.
Das kann dann als Teene oder Erwachsener dazu führen, dass sich einer fundamentalistisch-evangelikalen, sekten ähnlichen oder psychospirituellen Gemeinschaft angeschlossen wird und eine Radikalisierung stattfindet.
Versuchen diese Menschen, ihre Gemeinde zu verlassen oder verhalten sich anders als ihr Glaube es ihnen vorschreibt, reagiert das Nervensystem auf dieselbe Art und Weise wie bei Menschen, die in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen sind.
Auch ihr Nervensystem sendet dem Körper ständig Alarmsignale, sobald vom gewohnten Glauben abgewichen wird, mit all den bereits weiter oben genannten Symptomen, Glaubenssätzen und Problemen.
8. Was kann ich tun, wenn ich Angst habe, vom Glauben abzufallen oder nicht mehr glauben zu können?
Es ist absolut wichtig, sich bewusst zu machen, dass du heute erwachsen bist und nicht mehr stirbst, sollte der Kontakt zu den Eltern oder der Gemeinde abbrechen, weil du jetzt nicht mehr oder anders glaubst. Ja, es würde unheimlich weh tun, es ist schwer und trotzdem wird es weitergehen.
2. Versuche nicht nur, rein kognitive Sicherheit herzustellen.
Das bedeutet auch, dir bewusst zu machen, dass es nicht ausreicht, kognitiv den Glauben zu dekonstruieren, wenn du von religiösem Trauma heilen möchtest.
Denn den Glauben zu dekonstruieren bedeutet nicht, von religiösem Trauma zu heilen, aber sie ist ein Teil davon.
3. Es ist wichtig, dir ein sicheres soziales Umfeld aufzubauen und dass du dich nicht mehr in einem toxischen Umfeld befindest.
Distanziere dich von Orten und Menschen, die dich emotional verletzen oder die dich unter Stress setzen.
Solange du dich in einem toxischen Umfeld aufhältst, wird dein Nervensystem dir ständig Gefahr signalisieren, sobald du dich anders verhältst und das kann dich auf Dauer krank machen.
4. Suche dir bewusst Räume, an denen du dich sicher fühlst. Beispielsweise der Ort, an dem du wohnst, deine Wohnung, ein Verein, sportliche Aktivität, Kunst usw.
5. Lern ein Nervensystem zu regulieren.
6. Übe Sicherheit bewusst in dir zu fühlen.
7. Hol dir professionelle Hilfe, falls du allein nicht weiter kommst oder das Gefühl hast, stecken zu bleiben.
8. Mach dir bewusst, dass alles ein Prozess ist und wirklich viel Zeit braucht.
9. Hab Geduld mit dir selbst.
Ich hoffe, ich konnte mit diesem Blogbeitrag über “Die Angst, vom Glauben abzufallen oder nicht mehr glauben zu können” die Hintergründe dieser Angst beleuchten und wünsche dir, dass du dich jetzt etwas besser selbst verstehst und mutig deinen Weg weitergehen kannst.
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